Persönliche Erinnerungen von Lothar Kreienbrock
Die "Gedenken an Prof. Bögel" sind eine (sehr) kurze Zusammenfassung eines beruflichen wissenschaftlichen Lebens. Das charakterisiert Konrad Bögel aber nicht wirklich. Konrad Bögel war ein Mensch, ein Beeinflusser, ein Menschenfänger, ein Motivator, ein wirklicher Kosmopolit, der versucht hat, Probleme zu lösen - für die Menschen und für das Miteinander von Menschen und Tieren. Und insofern sind die akademischen Daten, ein Schriftenverzeichnis oder der Hinweis auf diverse Tagungen, die mit ihm und durch seine Motivation entstanden sind, nur ein kurzer Abriss. Viel wichtiger erscheint in dem Zusammenhang diese Motivationsgabe von Konrad Bögel zu sein. Und daher lassen Sie mich hier einige ganz persönliche Anmerkungen und Anekdoten zu seinem und unserem gemeinsamen Leben aufführen.
Ich lernte Herrn Bögel Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre kennen, als ich nach Neuberufung auf den Lehrstuhl Biometrie, Epidemiologie und Informationsverarbeitung an der Tierärztlichen Hochschule gerade dabei war, das Forschungsinstitut fachlich und inhaltlich neu aufzustellen. Plötzlich war Herr Bögel da und sagte: „Ich habe da einen Förderverein. Der muss in jüngere Hände gegeben werden, und es soll Fortbildung gemacht werden.“ Ich selbst hatte solche Fortbildungen schon frühzeitig begonnen, und insofern war es eine Freude, mit diesem Ideengut die Möglichkeiten auch in der Tiermedizin weiter zu fördern. So ergaben sich regelmäßige Kontakte mit Konrad Bögel, indem er immer wieder neue Ideen hatte. Wie können wir die polnischen Kollegen weiter in die Mitte Europas hineinbringen? Ist eine Zusammenarbeit mit dem Institute Pasteur möglich? Macht es nicht Sinn, die Kolleginnen und Kollegen aktiv zu würdigen, die vor Ort dazu beigetragen haben, die EHEC-Krise zu meistern - viele erinnern sich an die Zeit im Jahr 2011, als mit über 50 Todesfällen durch kontaminierte Sprossen eine große emotionale Welle durch Deutschland ging. Und so gab es immer wieder neue Impulse für unsere tägliche Arbeit.
Legendär sind auch seine „Entrümpelungsaktionen“. Dies muss ich genauer erklären. Bei den jährlichen Mitgliederversammlungen des Fördervereins besuchte uns Herr Bögel regelmäßig und brachte ab und zu „Schätze von seinem Dachboden“ mit, die er gesichtet und als mögliche historische Dokumente bewertet hatte, die für uns von Bedeutung sein könnten. Bei der Durchsicht dieser Dokumente fiel mir ein wirklich sensationelles Protokoll der WHO in die Hände. Es stammt aus dem Jahr 1980 und beinhaltet das Wortprotokoll einer Expertensitzung zum Themenkreis Antibiotikaresistenzen. Viele der Kollegen, die dort als junge Doktoranden aufgetreten sind, sind heute mittlerweile im Ruhestand. Liest man aber dieses Protokoll aus dem Jahr 1980, so hat man das Gefühl, dass alles, was wir heute mit modernen molekularbiologischen Methoden erforschen, schon damals bekannt war, dass die Probleme beschrieben waren und dass die entsprechenden Beschreibungen hier von großer Bedeutung auch für unsere heutige Arbeit noch immer sind.
Konrad Bögel hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung der tiermedizinischen Epidemiologie in Deutschland genommen, und viele junge Kolleginnen und Kollegen, mich selbst eingeschlossen, haben diesen Einfluss aufgesogen und es als Freude empfunden, mit ihm in Kontakt zu treten. Und dies war auch in der anderen Richtung so. Als z.B. im Jahr 2018 der Konrad-Bögel-Preis vergeben wurde, so schrieb er u.A. folgende Zeilen:
"Wenn dieser Tage der Konrad-Bögel-Nachwuchsförderpreis 2018 für eine Arbeit über Mucosal Disease und bovine Virus-Diarrhoe (MD-BVD) verliehen wird, dann fühle ich mich von der Erregergruppe recht persönlich überrascht und eingeholt. Denn vor 55 Jahren durfte ich mich mit dem MD-Virus im Feld und im Labor bekannt machen. Als junger Forscher (31) an der fabelhaft ausgerüsteten Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere in Tübingen wurde ich 1962 zur Ergründung eines Seuchenausbruchs unbekannter Natur nach Schleswig-Holstein geschickt. Es war meine erste Flugreise im Leben und schon deshalb aufregend genug. Mich erwartete Prof. Voss, ein erfahrener Tierarzt, der in seinem Praxisgebiet eine "neue Seuche" bei Rindern bemerkte. Aufgrund seiner Fachkenntnisse lenkte er den Verdacht auf die in den USA seit 1946 beschriebene Mucosal Disease. Also sammelten wir fleißig Gewebeproben und Blutproben zur Erregerisolierung und Antikörperbestimmung. Zurück im Labor in Tübingen isolierte ich dann mit modernster Zellkulturtechnik ein "zytopathogenes Agens", das sich antigenetisch und chemisch/physikalisch wie das MD-Virus aus den USA verhielt. Das heimische Isolat taufte ich "Virus MD-1". Dieser Stamm fand fortan Verwendung als Testvirus und Referenzvirusstamm in umfangreichen Untersuchungen zur Diagnostik und Verbreitung der MD-BVD in Europa und Afrika.
All das ist Geschichte. Nach heutigem Wissensstand kann ich nur noch staunen über die Fortschritte der Wissenschaft. Diese Virusinfektion entpuppte sich seither in ihrer Vielgestalt und Wandlungsfähigkeit unter den Tierseuchen als Oktopus und Chamäleon der Ausbreitung, Pathogenität und Immunität. Seuchenauftritte der MD-BVD werden zu einer Art dramaturgischem Unfall der Natur - und einem spannenden Lern- und Lehrobjekt. Das Faszinosum dieser weit verbreiteten und dennoch recht sporadisch sichtbar werdenden Infektion liegt im Wechselspiel von (a) immunologischer Toleranz und gnadenloser Letalität, (b) aktiver und passiver Immunität beim Jungtier und © der Rolle von Mutanten im Durchseuchungsprozess, Mutanten, die in der Wirtsspezies um ihre Dominanz konkurrieren, sich unter Umständen aber auch zu tolerieren oder gar zu ergänzen scheinen.
Bei einem solchen Spektakel in der Natur sehne ich mich auch mit 87 Jahren noch zurück ins MD-Labor."
Konrad Bögel brannte für die Wissenschaft zum Nutzen der Menschen. So erzählte er mir noch vor wenigen Tagen von einem Streitgespräch mit seinem Bruder (Physiker und Meteorologe) über die Gründe des Rückgangs der Ebola-Pandemie in Afrika vor einigen Jahren: Ist es die stille Feiung - ein tolles altes Wort, das mir wieder 'mal bewusst gemacht hat, wie wichtig Historie ist -, die große Teile der Bevölkerung immunisiert hat (These Epidemiologe), oder ist es der Wechsel der Jahreszeit, der mit einem Wechsel der Windrichtung einhergeht, so dass das Virus nicht mehr zu den Menschen getragen wird (These Meteorologe). Und schon waren auch wir zwei in einem Austausch zur aktuellen Pandemie-Situation. Mit Konrad Bögel zu diskutieren war stets eine Freude, ein Gewinn, ein großes Privileg.
Das ging weit über das Fachliche hinaus. Eine letzte Anmerkung deswegen auch noch in privater Sache, die zeigt, wie der Mensch Bögel wirklich war. Eher zufällig ergab es sich, dass sich herausstellte, dass meine Frau und ich am selben Ort auf Mallorca unseren Jahresurlaub verleben wollten, in dem Maria und Konrad Bögel eine kleine Ferienwohnung hatten. Und zufälligerweise ergab es sich auch, dass wir zeitgleich vor Ort waren. Also wurde ein Treffen verabredet, und Maria und Konrad Bögel luden uns in ihre Ferienwohnung zum Essen ein. Konrad Bögel kochte selbst. "Nichts Besonderes, einfach nur eine Dorade im Backofen, ein paar Kräuter dazu, na ja, wie die Franzosen sagen, wenn Oregano auf ein Gericht gestreut wird: méditerrané. Also ist es vielleicht Dorade méditerrané. Na ja, in Ergänzung noch, wir haben ein bisschen Gemüse dazu getan, Pilze sind auch dabei. Die Franzosen sagen dann natürlich à la forestière. Also sag' ich, das Essen, das ich Ihnen serviere, ist Dorade méditerrané à la forestière."
Ja, so war Konrad Bögel, ein Kosmopolit, ein Mensch, ein Motivator, einer, der stets und ständig in Bewegung war - bis zum letzten Tag. Ich selbst hatte die Freude, nur wenige Wochen vor seinem Tod noch in einem wissenschaftlichen Austausch mit ihm zu stehen. Wir sind einige seiner alten Unterlagen durchgegangen, die er aufgearbeitet hatte und die wir in absehbarer Zeit auf einer neu konzipierten Homepage darstellen wollen. Eigentlich war geplant, dass wir uns noch im Herbst bei einer Tasse Kaffee und selbstgebackenem Apfelkuchen gemeinsam diese Homepage anschauen wollten. Dazu kommt es leider nicht mehr. Aber die Zeit mit Konrad Bögel und die Möglichkeiten der Diskussion mit ihm haben uns allen viel gegeben. Es war deswegen eine Freude und Ehre, diese Zeit mit Konrad Bögel verbringen zu dürfen. Ja, er ist gegangen. Aber ja, er wird weiterleben und wird uns weiter Impulse geben.