Ein tückischer Vorführeffekt

genial – 1978

1978 gab es gute Gründe, die erste Sitzung des Lenkungsgremiums für das neu geschaffene WHO-Programm „Safety Measures in Microbiology and Genetics (SMM)“ in Nordrhein-Westfalen, abzuhalten. Beim Pockenausbruch 1970 in Meschede gemachte Erfahrungen und daraus gezogene Konsequenzen waren noch lebendig und wegweisend. Wenn wir heute auch über die Hochsicherheitsmaßnahmen im Umgang mit Patienten bei der großen Ebola-Epidemie von 2014/15 in Afrika staunen, dann finden wir dennoch so viele Parallelen zum Pockenausbruch bei uns im Jahre 1970, dass ich das Geschehen hier skizziere, ohne daran irgendwie beteiligt gewesen zu sein. Die Vorgänge und Konsequenzen sind aber so exemplarisch, dass mir diese Ausnahme in meinen persönlichen Aufzeichnungen gerechtfertigt erscheint.

Die wirklichen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens und die damals unvermeidlichen Schwachstellen in der Seuchenhygiene sind aus dieser kurzen Zusammenfassung wohl nur zu erahnen. Ich zitiere dazu auszugsweise und meistens wörtlich aus „Seuchen/Pocken – Durchs Fenster“ (Der Spiegel 7/1970) und „Historie des St. Walburga-Krankenhauses“ (www.walburga-krankenhaus.de): Ein Tourist hatte die Pocken aus Pakistan nach Meschede gebracht. 21 Menschen erkrankten an dieser in Deutschland damals schon fast vergessenen Seuche, – vorwiegend Personal und Besucher des Krankenhauses, in das der erkrankte Tourist eingeliefert worden war. Vier Erkrankte fanden den Tod. Das Ausbruchskrankenhaus wurde „von der Umwelt komplett abgekapselt“, vier Landkreise wurden zum Pockensperrgebiet erklärt. Erkrankte samt Angehörigen sowie behandelnde Ärzte und Schwestern (insgesamt über 50 Personen) wurden in die „Pocken-Festung Wimbern“ transportiert, die für eventuelle Pockenfälle jederzeit aufnahmebereit gehalten wurde. Rund 260 weitere Kontaktpersonen kamen in neun behelfsmäßige Quarantänestationen. Ein Ansteckungspatient, der sich in seinen Angaben zu einem Krankenhausbesuch um eine Woche geirrt hatte, und so zunächst den Isoliermaßnahmen entkam, zog allein die Quarantäne von 156 Kontaktpersonen nach sich. Über 100.000 Menschen unterwarfen sich im „Sperrgebiet“ der sofortigen Pockenimpfung. Im Sauerland breitete sich Furcht aus. Handel und Wandel kamen zum Erliegen. Hotels schickten ihr Personal in die Arbeitslosigkeit. Die Gäste blieben aus und Großwäschereien holten die Bettwäsche nicht mehr ab. In den 40 Kilometer entfernten Wintersporthochburgen des Hochsauerlandes leerten sich rasch die Zimmer. Eltern schickten ihre Kinder nicht mehr zur Schule und Großmärkte im Ruhrgebiet verweigerten Lastwagen aus dem Gefahrengebiet den Zugang. Zu allem geriet in Meschede die Angst zur Panik, als Bundespanzer gemeinsam mit englischen und belgischen Einheiten zu einer Übung auffuhren: „Meschede ist umstellt, die lassen keinen mehr raus. Wir müssen alle sterben“, lief die Entsetzensparole durch die Stadt.

Das alles beschreibt damalige Methoden der strikten Isolierung, der weitreichenden Einschränkung von Massenkontakten, der intensivierten Beobachtung weiter Bevölkerungskreise und der spezifischen Impfaktionen. Deutlich wurden aber auch Schwachstellen im Schutz der Bevölkerung vor der Ausbreitung des Erregers. Das betraf vor allem Luftbewegungen und unkontrollierte Kontakte im Krankenhaus sowie den Umgang mit infizierten Personen beim Transport zu den Isolierstationen.

Eine zweite Episode beschreibt ebenso exemplarisch, diesmal selbst erlebt, die Situation vor fast 38 Jahren. Das war 1977. Noch Jahre nach dem Pockenausbruch 1970 und den ersten Überraschungsattacken von Marburg – und Ebolaviren in den Jahren 1967 bzw. 1976 – waren die Gesundheitssysteme keineswegs auf die Risiken vorbereitet, welche „neue“ Erreger und menschliche Technologien im Seuchengeschehen mit sich brachten.

So erhielt die WHO in Genf um 1977 ein Paket, das eine halbe Leber enthielt. Erst das nach der Öffnung des Paketes entdeckte „Begleitschreiben“, bekundete, dass es sich um das Organ eines Mannes handelte, der unter verdächtigen Symptomen einer „Seuche“ erlag, die in einem kleinen geographischen Gebiet ca. 60 Tote gefordert hatte. Durchnässtes Zeitungspapier und Holzwolle umgaben das Untersuchungsgut. Damals verantwortlich für SMM, wurde ich von unserer Poststelle zur Hilfe gerufen. Zufällig war an jenem Tag Dr. Harris, entlassener Leiter des aufgelösten Biowaffeninstituts im Militärgebiet Porton Down, UK, bei mir in Genf als Programmberater zu Gast. Und – gottseidank – werden Pakete in der WHO unter bestimmten Vorsichtsmaßnahmen geöffnet, und zwar auf einer abwaschbaren Platte. Die von uns eingeleitete Desinfektionsprozedur an Personen und Materialien waren umfassend, prompt und diskret, aber irgendwie provisorisch. Und das vollzog sich nicht in einem hermetisch abgeriegelten Labor, sondern in einem großen Verwaltungsgebäude. Ich erinnerte mich an meine Zeiten, als ich lernte, mit Milzbrand und Virusseuchen umzugehen – in hygienisch einwandfreier Umgebung. Welcher Unterschied!!

Mit dem Hintergrund solcher exemplarischen Episoden machte sich das SMM-Lenkungsgremium also 1978 in Düsseldorf ans Werk. In kaum einem Wissenschaftsbereich klafften Theorie, Hightech-Inseln und die Realität in der Seuchenpraxis so weit auseinander. Das ist verständlich, wo man sich gegen Unvorhersehbares wappnen will. Wie schön und ermutigend ist es da für Tagungsteilnehmer, wenn die größten Schwachstellen im üblicherweise kontaktreichen Umgang mit hochinfektiösen Patienten durch technische Neuerungen beseitigt werden können. Jedenfalls hatten die Fachleute in Deutschland das Problem nach dem oben skizzierten Pockenausbruch angepackt.

Das Ergebnis war ein Feuerwehrauto, in dem ein Seuchenpatient völlig isoliert von Betreuern und Umgebung transportiert und behandelt werden konnte. Innen, in der Isolierkammer, war der Luftdruck um einige Millibar geringer als außen. Sollte ein Leck auftreten, würde die Luft nach innen gesaugt und kein Infektionserreger nach außen dringen. Die Abluft wurde keimfrei gefiltert. Sichtfenster, Gummiarme, die von allen Seiten in den Fahrzeugaufbau zum Patienten ragten und kleine Desinfektionsschleusen für Medikamente und andere Materialien erlaubten dem Personal schon vor Ort eine sichere Handhabung des Patienten von außerhalb des Fahrzeuges. Das war wirklich eine Technologie, wie sie damals selbst in Zukunftsfilmen kaum denkbar war und auch heute, 40 Jahre später, in der Zeit der Vorkehrungen gegen Ebola-Epidemien, noch immer als etwas Außergewöhnliches anmutet.

Einen ernsthaften Einsatz hat dieses Fahrzeug bis heute – gottseidank – wohl nicht erlebt. Das besagte Treffen in Düsseldorf bot also eine gute Gelegenheit, dieses seuchenhygienische Sicherheitsfahrzeug den Weltexperten erstmals vorzuführen. Und sie staunten. Aber jeder Fortschritt hat nun mal seine eigenen Tücken. Und unbestritten ist den teuflischen Details gemein, dass sie trotz aller Bemühungen immer dann in Erscheinung treten, wenn dies am allerwenigsten passt. Als sogenannte „Vorführeffekte“ verleihen sie unseren wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften besonderen Glanz.

Also, das Fahrzeug hatte natürlich seine eigene Stromerzeugung für Licht und Ventilator etc. Damals, 1978, bei der Vorführung des Fahrzeuges schien alles überzeugend. Nur, als der Strom erzeugt und die Belüftung der Patientenkammer angestellt wurde, drehte sich der Ventilator in die falsche Richtung. Schlagartig streckten sich ca. 10 Gummiarme nach allen Seiten aufgeblasen aus dem Fahrzeug heraus den Experten entgegen, – anstatt nach innen zum fiktiven Patienten. Das war eigentlich kein Willkommensgag. Schreck und ebenso promptes Lachen gingen aber rasch in ein allseitiges Schulterklopfen über und schufen so eine menschliche Nähe ganz besonderer Art. Wir erfuhren etwas über Plus und Minus von Gleichstromanschlüssen und deren Wirkung auf die Drehrichtung von Motoren und erlebten ein Abschlussessen dieser SMM-Tagung von überbordender Herzlichkeit und wirklich bleibender Erinnerung.


Literatur:

„Seuchen/Pocken – Durchs Fenster“ (Der Spiegel 7/1970) und „Historie des St. Walburga-Krankenhauses“ (www.walburga-krankenhaus.de)