Schwere Entscheidung bei Tollwut
bange – um 1975
Anruf von Prof. Steck, Bern: ein Tierarzt hatte letzte Woche ein Rind mit unsicherer Diagnose behandelt und schließlich den Rat zur Schlachtung gegeben. Das Tier kam zum Metzger. Einige Tage danach befiel den Tierarzt die Sorge, es könne sich um Tollwut gehandelt haben. Er meldete den Verdacht. Gehirn und Rückenpartie, Knochen und Fleisch waren zum großen Teil schon an Einzelkunden verkauft. Glücklicherweise fanden sich in der Metzgerei noch einige Reste.
Nach zwei weiteren Tagen kam die schockierende Nachricht aus dem diagnostischen Labor: massiv Tollwutvirus in den Resten von Nervengewebe an Wirbelknochen. Zu diesem Zeitpunkt war die erregerhaltige Ware längst in den heimischen Haushalten verarbeitet und mit Genuss verzehrt worden. Telefonisch wurde ich um Rat gebeten, was zu tun sei. Hunderte, vielleicht mehr als tausend Bürger der betroffenen Ortschaft und der Nachbarschaft sowie Durchreisende hatten das erregerhaltige Fleisch sicherlich schon verarbeitet und genossen. Außer dem Tollwut-Rind hatte die Metzgerei noch weitere Rinder geschlachtet und deren Fleisch in Verkehr gebracht. Eine Differenzierung war nicht mehr möglich. Nachträglich war also die Gesamtheit der verkauften Rohware als „erregerhaltig“ zu betrachten. Ein allgemeiner Aufruf aller Personen zur Tollwutschutzbehandlung, die über einen Zeitraum von einer Woche verdächtige Rohware aus der betreffenden Metzgerei gekauft hatten, hätte einen Rieseneklat, wenn nicht gar eine Panik ausgelöst. Aus der Literatur war uns ein ähnlicher Fall nicht bekannt. Sicher hätte das der Metzgerei den Garaus gemacht, denn – so lag der Fall – im Städtchen gab es noch eine zweite Metzgerei, die völlig unbehelligt geblieben wäre.
Die Behörden des Landes zogen mich ins Vertrauen. Sie wollten von der WHO, also von mir als Verantwortlichem wissen, inwieweit eine Tollwutübertragung durch den Verzehr erregerhaltigen Fleisches bekannt sei. Guter Rat war möglich. Ich erinnerte mich an eine Untersuchung aus der Deutschen Demokratischen Republik über die Wahrscheinlichkeit von Tollwut bei erlegten Rehen in Gebieten der Fuchstollwut. Aufgrund der Jagdberichte, die Umstände und Tierverhalten vor dem Abschuss beschrieben, musste angenommen werden, dass von den fast 20.000 als genusstauglich beurteilten Rehen über 100 wahrscheinlich, und mindestens 20 mit allergrößter Sicherheit, tollwutinfiziert waren, ohne dass es zur Infektion beim Menschen gekommen wäre. Diese Information überzeugte oder bestärkte die Verwaltung, sich ruhig zu verhalten und auf eine alarmierende Tollwutschutzbehandlung bei Tausenden von Bürgern zu verzichten. Wenn letztlich auch die nationalen Behörden entschieden, verbrachte ich als Ratgeber, aufgrund der langen Inkubationszeit, dennoch bange Monate.
Anmerkung: Obige Zahlen sind, ca. 40 Jahre zurückliegend, nur noch grob in meiner Erinnerung präsent.