Technische Neuerung
gefährlich – 1957
Schon recht früh in meiner Berufsbildung hatte ich mit Mikroben zu tun. Das Unbekannte, Unsichtbare, ja Abenteuerliche der Welt der Mikroorganismen begann mich zu faszinieren. Als cand. med. vet., also in den höheren Semestern, habe ich mir ein Thema für meine Doktorarbeit ausgesucht, das die Isolierung und Vermehrung von Tuberkulosebakterien verlangte. In den Semesterferien wurde ich am Staatlichen Tierärztlichen Untersuchungsamt in Stuttgart von Frau Holzwarth, einer äußerst strengen und ungnädigen technischen Assistentin, in die Arbeitstechniken eingeführt. Sie war eine “Schlüsselperson” in meinem Berufsleben. Man erinnert sich mit Ehrerbietung und auch mit Stolz an die harte Schule, die man im Umgang mit gefährlichen Seuchenerregern durchstanden hat. Und bei Frau Holzwarth im TB-Labor war es besonders hart, aber richtig so!
Bis heute zweifle ich, ob es diese wissenschaftliche Erstbegeisterung war, die mich später zum Mikrobiologen und Seuchenfachmann werden ließ, oder ob mich weit mehr der besondere Geist des Laborteams geprägt hat. Straffe Disziplin, Routineverhalten am Labortisch nach einem festen Protokoll bei strengster Aufsicht belohnte mich mit dem Zugang, ja der Zugehörigkeit zu einer ganz besonderen Gruppe von Spezialisten, die den Arbeitstag gerne mit einer lockeren Gesprächsrunde, um den überdimensionalen „Packtisch“ herum stehend, abschloss – nicht selten mit einem Umtrunk verbunden. Sogar eine kleine Gefahrenzulage gab es in Form von Gutscheinen für hochwertige Lebensmittel, das sogenannte „Buttergeld“. Man hatte es in einem bestimmten Krämerladen einzulösen. In den Nachkriegsjahren war das eine wertvolle Zugabe, ja geradezu ein Privileg.
Konrad Bögel 1956 als junger Tierarzt |
Es erscheint mir heute mehr als verständlich, dass es mich als frischgebackener Tierarzt nach dem Staatsexamen zurück an das Stuttgarter Untersuchungsamt zog. Als Praktikant durchwanderte ich für ein Jahr alle Abteilungen des Instituts und erwarb die Berechtigung zur bakteriologischen Fleischuntersuchung. Mit Prof. Dr. Woernle, damals Leiter der virologischen Abteilung und des Geflügelgesundheitsdienstes, blieb ich zeitlebens verbunden.
Nach dieser Zeit größter Vielseitigkeit war ich reif für den nächsten Schritt zu noch höherer Spezialisierung. Dr. Scheu, Leiter des Untersuchungsamtes, der es in seinen Rundgängen durch die Institutsabteilungen verstand, uns mit immer neuen Ideen aus der Weltliteratur zu begeistern, setzte mich auf Milzbrandisolate und Milzbrandphagen an. Der für Mensch und Tier so gefährliche Milzbrandbazillus wird nämlich seinerseits von Infektionserregern, den sogenannten Phagen, heimgesucht und zerstört. Das sind nichts anderes als Viren, aber eben von Bakterien. Mit einem einfachem Trick kann man die Phagen sichtbar machen: Man züchtet in der Petrischale ganze Rasen von Milzbranderregern. Dort, wo man die Phagen aufbringt, wächst der Rasen nicht. Kreisrunde „Löcher“ sind deutlicher Beweis für die Infektionskraft dieser im Lichtmikroskop ansonsten nicht mehr sichtbaren Phagen. Die unterschiedliche Anfälligkeit von Milzbrandbazillen für eine Palette solcher Phagenstämme sollte uns helfen, importierte Bazillen als „exotisch“ zu erkennen und auf ihr Ursprungsland zurückzuführen. Unserem heimischen Milzbrand waren wir ja recht gut Herr geworden. Doch machte der Import dieses teuflischen Erregers ind Futtermittelstoffen immer mehr zu schaffen, z.B. in Knochenmehlen aus Indien.
Bei allem Restrisiko war die Laborarbeit mit dem Milzbrandbazillus für den Geübten eine Angelegenheit von Sicherheitsroutine bei üblich straffer Disziplin. Besondere Vorsicht ist allerdings immer dann geboten, wenn technische Neuerungen eingeführt werden, für die es logischerweise noch keine langfristige Erfahrung gibt. Mit einem Vakuumbrutschrank kam eine solche Errungenschaft in den großen Arbeitsraum, den ich mit anderen teilte. Diese Apparatur sollte die Arbeit mit Anaerobiern – dem Sauerstoff abholde Bakterien – erleichtern, unter denen es eine ganze Reihe gefährlicher Erreger gibt. Stolz stand der erste Vakuumbrutschrank des Instituts auf dem Labortisch unseres Gefahrenlabors: nicht viereckig, wie eine Waschmaschine, sondern elegant als runde weiße Röhre, Innendurchmesser ca. 40 cm, Tiefe ca. 50 cm, Vordertür mit dickem Sichtfenster. Solche Fenster für große Druckunterschiede kamen damals in Mode bei immer höher fliegenden Flugzeugen, im Tiefseetauchgerät von Auguste Piccard und in der Raumfahrt. Auch im Vakuumbrutschrank sah das schick aus und machte ihn zu einem Symbol der Zukunft.
Selbstverständlich haben wir den Vakuumbrutschrank nicht gleich mit hochgefährlichen Bakterien beschickt. Phase für Phase machten wir uns zuerst mal mit dem Gerät vertraut, von der Inbetriebnahme bis hin zur Reinigung und Sterilisierung. Dazu noch die Vakuumpumpe. Und so lief das Gerät schon mal, bis, – ja bis ein Donnerschlag durchs Institutsgebäude ging, als ob eine Feldhaubitze abgeschossen worden sei. Das dicke Sichtfenster war durch das Vakuum implodiert. Soweit die Glassplitter nicht in der Metallrückwand des Gerätes steckengeblieben sind (!!), wurden sie von dieser reflektiert und in Tausenden kleinster Splitter quer durch den Raum in die 6 m gegenüber liegende Wand geschossen, und das in recht breiter Front – in Oberkörperhöhe über der Labortischebene. Zufällig war niemand im Raum. Ich befand mich gerade auf dem Korridor. Die gewaltige Ladung an Splitterschrot hätte wohl kaum jemand überlebt. Reines Glück! Denn normalerweise verbringt man den größten Teil des Arbeitstages im Labor. Nicht auszudenken, was mit dem ganzen Institut und Personal passiert wäre, wenn Massenkulturen von gefährlichen Erregern durch die Luft geschossen worden wären.
Wir haben alle daraus unsere Lehre gezogen, für das ganze Leben. Und ich danke nicht nur den Engeln, die mich umgaben, sondern bis heute Dr. Scheu und den Kollegen für eine Lehrzeit mit all den strengen Regeln im Umgang mit infektiösem Material und technischen Neuerungen. „Türe zu, Ruhe!!“ schallt es auch heute noch in meinen Ohren. Unnötige Luftbewegungen wurden im Labor vermieden und außer den Flammen der Bunsenbrenner mit ihrem typischen Fauchen herrschte bei der Arbeit ziemliche Ruhe. Das Vertrauen untereinander und in die Sicherheit gewohnter Arbeitstechnik ließ ein Gefühl der Gefahr oder gar Angst nicht zu. Es sei denn, man befasst sich mit Brandneuem wie einem Vakuumbrutschrank. Mit dieser Geschichte erhält auch die oben beschriebene lockere Runde der Kollegen am Ende des Arbeitstages ihren besonderen Sinn. Ich blieb immer Mitglied der Stuttgarter Tierärztlichen Gesellschaft, stolz, dazuzugehören – über all die Jahrzehnte der Abwesenheit.
Literatur:
„Kulturelle und histologische Untersuchungen makroskopisch unveränderter Nieren von chronisch tuberkulösen Rindern“, K. Bögel: Inauguraldissertation, Gießen (1956)