Tollwutbekämpfung und streunende Hunde
zufällig – 1986
Wenn sich eine Lehrmeinung, so falsch sie auch sein mag, über Jahrzehnte weltweit gefestigt hat, braucht es mindestens ebenso viel Zeit, sie umzuwerfen. Ohne Dezimierung der streunenden „Straßenköter“, die bis zu 60 %, ja 70 % der Hundepopulation ausmachen können, sei in vielen Entwicklungsländern an eine Ausrottung der Hundetollwut überhaupt nicht zu denken. So stand es über Jahrzehnte in den Lehrbüchern und in den Empfehlungen des WHO-Experten-Komitees zu lesen. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu gab es nicht, aber einige Berichte aus der Sicht früherer Kolonialherren. Auf Empfehlung der WHO und insbesondere eines führenden Veterinärbeamten des CDC (Anmerkung: Communicable Disease Center, ab 1970 Center for Disease Control, ab 1992 Centers for Disease Control and Prevention) in den USA wurden nach dem zweiten Weltkrieg aufwendige Programme zur Vernichtung streunender Hunde in den Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens etabliert. In Madrid verschwanden tatsächlich die „herrenlosen“ Hunde von den Straßen, aber in einer Dekade, in der Autos die Stadt eroberten und ohnehin die Straßenhunde verdrängten. Kausalität und Korrelation waren damals noch kaum verstandene Begriffe in der Seuchenlehre. Es genügte auf die Erfahrung in Ländern mit aufwendigen und gut funktionierenden Programmen der Hundekontrolle hinzuweisen. Scheinbar folgerichtig wurden vielerorts Fangbrigaden und Tötungsmaschinerien für Hunde eingerichtet. Sie waren alle für die Katz. Der Erfolg wurde an der zunehmenden Zahl täglich beseitigter Hunde gemessen, ohne die wirklichen Zusammenhänge zwischen Populationsdynamik und Regulierungsmaßnahmen zu kennen.
Ernsthafte Zweifel an Programmen zur Reduktion streunender Hunde kamen den Biologen, die sich mit der Dynamik des Fuchses in der Europäischen Wildtiertollwut befassten.
Zwischen 1968 und 1980 wurde hier in einem Verbund von mehr als 10 Arbeitsgruppen in ebenso vielen Nationen intensiv geforscht ( H.G. Lloyd, B. Jensen, J.L. van Haaften, F.J.J. Niewold, A. Wandeler, K. Bögel und A.A. Arata: Annual Turnover of Fox Populations in Europe, Zbl.Vet. Med., Reihe B, 23, 580-589, 1976.)
So machte es einen Sinn, erfahrene Fuchsökologen Europas zu einem WHO-Symposium nach Nepal (Kathmandu 1986) zu holen, um mit den Veterinärchefs südostasiatischer Länder über einen Forschungsverbund zur Populationsdynamik von Hunden nachzudenken. Die Tagung war mit Spannung geladen, denn die Beziehung des Menschen zum Hund variiert recht stark mit dem religiösen und sozioökonomischen Umfeld. Außerdem waren zwei Regierungssektoren betroffen, die sich in ihren Denkansätzen grundsätzlich unterschieden. Auf dem Gesundheitssektor lasteten enorme Impf- und Behandlungskosten bei Menschen nach Tollwutexposition. Die Veterinäre im Landwirtschaftssektor waren aber mit der Bekämpfung produktionsschädigender Tierseuchen überlastet. In ökonomischer Hinsicht war die Hundetollwut für diesen Regierungssektor ohne große Bedeutung. Ein Programm zur Regulierung der Hundepopulation hätte nur das limitierte Budget für die Landwirtschaft bedrängt. Das unpopuläre und überaus teure Fangen und Töten der „Straßenköter“ überließ man da tunlichst den großen Städten. Denn dort drückte der Schuh am meisten. Immerhin, mit dem Symposium 1986 in Kathmandu waren erste Schritte für einen Forschungsverbund eingeleitet. Die Veterinärchefs reisten mit neuen Gedanken zurück in ihre Länder.
Meine Frau und ich blieben noch zurück. Mit meinem Freund „Didi“ (Dr. D.D. Joshi, Direktor der Epidemiologischen Abteilung im Gesundheitsministerium Nepals) musste ich noch den offiziellen Bericht über das Symposiums ins Reine schreiben. Maria und ich wählten gern ein örtliches Hotel mit traditioneller Ausstattung. So waren wir auch in Kathmandu nicht in einer der Luxusherbergen am Stadtrand abgestiegen, sondern im Hotel „New Ganesh“, einem kleinen Backpacker-Quartier inmitten des quirligen, von Marktfrauen, geschäftigen Handwerkern, freundlichen Händlern und singenden Lastenträgern beherrschten Stadtzentrums. Dazu kamen streunende Hunde und entsprechende Gerüche – angereichert mit den Gewürzen der Himalaya-Region und dem Dunst von Räucherstäbchen und Müllhaufen (Anmerkung: im Hotel New Ganesh zahlten wir damals 8,50 US$ pro Nacht für ein Doppelzimmer mit Bad und hygienisch einwandfreiem Frühstück).
Mit der Rikscha durch Kathmandu |
Wir erwachten also zu neuen Taten, nachdem am Vortage die Teilnehmer des Symposiums einschließlich aller Experten abgereist waren. Als wir frühmorgens aus dem Fenster sahen, rieben wir uns nochmals die Augen. Hatten wir doch eben erst mit den Chefveterinären asiatischer Staaten die Notwendigkeit der Massen-Eliminierung streunender Hunde diskutiert, weil diese für ein Impfprogramm gegen Tollwut nicht greifbar und nicht zu kennzeichnen seien (Stichwort: Bestandsregulierung).
Und nun blickten wir verdutzt auf das Hunderudel, das sich gleich neben dem Hotel an einem Müllhaufen zu schaffen machte. Aber da hatten doch alle „Köter“ einen hübschen Blütenkranz um den Hals und einen roten Farbtupfen auf der Stirn – unserem Symposium geradezu zum Trotze.
Wir erlebten den Tag „kukor puja“, an dem ganz Nepal den Hund als etwas Göttliches anbetet und feiert. Unsere Experten konnten wir nicht mehr einfangen. Wir rannten auch lieber zu den Hunden. In einer Rikscha fuhren wir durch die Straßen.
Maria wurde zu meiner „kongenialen“ Assistentin. Auf einem Blatt Papier mit handgezogenen Tabellenspalten machte sie nach meinen Angaben pro gesichtetem Hund („eye-capture“ Technik) jeweils ein Kreuz unter:
- „anbetungs-markiert“ (Hund außerhalb vom Haus, aber markiert)
- „eigentums-markiert“ (Halsband, angeleint und/oder eindeutig zu einem Haus gehörig, z. B. in der Haustür oder einer Fensterhöhle sitzend).
- ohne Markierung
Nach der ersten Ausbeute der Rikscha-Fahrt in kühlender Morgenluft, ging es in anstrengendem Fußmarsch durch die Straßen zur Fein-Erfassung von Hunden ohne Markierung. Nun war das Kriterium, ob Menschen (wir oder Einheimische) sich diesen unmarkierten Tieren nähern und sie gar berühren konnten (approachability).
Wir fanden 3 Unterkategorien:
- freundliches Verhalten (i. d. R. war der Eigentümer/die Referenzperson zugegen oder zuhause)
- aggressives Verhalten ohne Zurückweichen (sichtlich wurde ein bestimmtes Haus verteidigt, und das wurde uns in jedem einzelnen Fall auch bestätigt).
- Fluchtverhalten (von Umstehenden wurde uns bedeutet, dass Hunde, die großen Abstand wahrten und bei Annäherung rasch flohen, zu einer anderen Straße gehörten und sich außerhalb ihres Territoriums befanden, um z. B. auf Brautschau zu gehen oder an einem Fleischerstand einen Happen zu erhaschen).
Inzwischen befanden wir uns in der Zeit größter Mittagshitze, für uns wie auch für die Hunde Kathmandus ermattend, aber der Sache dennoch dienlich. Denn nun ruhten die Hunde und uns hatten sich inzwischen 20 – 30 Kinder und Jugendliche mit all ihrer Begeisterung angeschlossen. Sie begriffen rasch, was uns an „Fusa-Fusa“ (Hund-Hund) interessierte und sie führten uns auf ländlichen Pfaden im Randgebiet der Stadt zu all den Tieren, die sich in ihrem Territorium irgendwo einen Schattenplatz gesucht hatten. Der Anteil an freundlichen Tieren war bei vorsichtiger Annäherung mit all den vertrauten Kindern in unserem Menschenrudel besonders groß und tief beeindruckend. Als wir einmal Zweifel am Status eines leicht aggressiven Hundes hatten, kam flugs ein Junge und trug den großen Hund auf seinen kleinen Armen weg. An den folgenden beiden Tagen besuchten wir andere, kleinere Städte in der Umgebung Kathmandus. Wir gingen nach der gleichen Methode vor, registrierten aber einen schwindenden Anteil „anbetungs-markierter“ Tiere. Die Blumenhalsbänder lösten sich und die roten Anbetungszeichen auf der Stirn der Hunde verblassten.
Im Gänsemarsch auf der Suche nach Hunden |
Ein Nickerchen in der größten Hitze des Tages |
Nach dem „sakralen Erlebnis“ waren wir bald wieder zurückgeworfen in die rationale Welt mit „streunenden Hunden“ und der von ihnen ausgehenden Tollwutgefahr. Wir konnten aber auch über einen Tag berichten, an dem uns fast 95 % der Hunde damit überraschten, dass sie für mindestens eine Referenzperson „accessible“ sind, was einer gut geplanten Impfkampagne gegen Tollwut zum Erfolg verhelfen kann. Folgeprojekte in Sri Lanka (hindustisch), in arabischen Gebieten Nordafrikas (islamisch) und im Slum einer Großstadt Südamerikas (katholisch) verdeutlichten uns die zu erwartenden Unterschiede im Umgang mit Hunden. Die Bindungsrate an „Referenzpersonen“ lag aber überall überraschend hoch, um 90 %.
Die Rolle und Definition „streunender Hunde“ im Rahmen der Tollwutbekämpfung und die Naturgeschichte Mensch-Hund musste umgeschrieben werden. Heute wissen wir, dass der Mensch gegen die starke Dynamik der Hundepopulation nicht ankommt und das Fangen und Töten von freilaufenden Hunden, d. h. deren Entfernung aus einem gesättigten Ökosystem, sinnlos ist.
Entfernte Tiere werden unverzüglich durch erhöhte Überlebenschancen anderer Hunde ersetzt. Man muss nicht einmal auf Nachwuchs warten. Nur das Gerangel um Hierarchie und Territorium nimmt zu und damit der Beißkontakt zwischen den überlebenden Tieren – und damit die Gefahr der Tollwutübertragung. Also ist es besser, gefangene Hunde zu impfen und an ihrem Platz im Ökosystem zu belassen.
Für diese zufällige und ungeplante Feldstudie nahm ich mir 3 Arbeitstage ohne vorherige Genehmigung meines Arbeitgebers, der Weltgesundheitsorganisation. Genf war doch etwas weit entfernt, und Internet gab es noch nicht. Später bekam ich von der WHO meine gesamten Unkosten für diese Untersuchung rückerstattet. Sie betrugen ca. 25,- US$ für Taxi und Rikscha. In Bezug auf Kosteneffizienz war das vermutlich meine größte berufliche Leistung mit weitestgehenden Folgen: Denn dieser Zufall in meinem Forscherleben führte zu einer der größten Revolten gegen etablierte Expertenweisheit.
Literatur:
„Accessibility of dog populations for rabies control in Kathmandu valley, Nepal“, K. Bögel and D.D. Joshi, Bulletin of the World Health Organization, 68 (5), 611-617
„Bestandsregulierung bei Hunden“, K. Bögel, in „Das Buch vom Tierschutz“, H.H. Sambraus und A. Steiger Editors, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, pp. 796-802 (1997), s. darin insbesondere Abschnitt „Abkehr von falschen Vorstellungen“, p. 797 (1990).