Wochenende auf eigene Faust

ungestüm – 1989

Der Anlass für diesen Eintrag ist tiefernst. In diesem Sommer ist ein Ebola-Virusstamm in West-Afrika außer Rand und Band geraten. (Anmerkung: Ausbruch der Ebolafieber-Epidemie 2014 in Westafrika) Eigentlich erlaubt das keinen satirischen Vorspann. Aber die schockierende Realität weckt eben Erinnerungen aller Art. Und so leiten mich die Gedanken 25 Jahre zurück zum Jahr 1989. Damals in der WHO, hatte ich mich als Spezialist mit staatlichem Examen in der Tierseuchenbekämpfung längst damit abgefunden, dass ein Ausbruch oder Verdacht einer Seuche in der Regel erst ganz am Ende der Arbeitswoche gemeldet wird, ob es sich nun um Maul- und Klauenseuche, Schweinepest, Geflügelpest oder Tollwut handelt.

Also liegt das nicht am Seuchenerreger, sondern an einer ureigensten Verhaltensweise des Menschen. Nicht nur die Arbeit, sondern auch das Gewissen soll zum Wochenende eine Entlastung erfahren. Dieser Grundsatz scheint nicht nur für den Veterinärbereich zu gelten, sondern insbesondere auch dann, wenn Menschen bedroht sind. Die Last des Handelns trifft dann aber um so härter diejenigen, die sich spät am Freitagnachmittag noch am Arbeitsplatz befinden. Und das sind oft die Schwaben. Über die vielen Berufsjahre in Stuttgart, Tübingen und Genf hat sich bei mir der Eindruck verfestigt, dass die Schwaben bevorzugt von solchen Wochenendlasten betroffen sind, und ich habe aus dieser „Einsicht“ nie einen Hehl gemacht. Ab 13:00 Uhr war Freitags in Bonner Ministerien niemand mehr erreichbar, in Landesregierungen ab 16:00 Uhr. Nur in Stuttgart konnte ich in den Ministerien für Gesundheit oder ländlichen Raum noch um 19:00 Uhr fast regelmäßig den Chefveterinär bzw. Chefmediziner oder seinen Stellvertreter erreichen.

WHO-Gebäude in Genf
WHO-Gebäude in Genf

Dieses Weltbild vom Schwabenfleiß musste ich allerdings einer gewaltigen Revision unterziehen. Und das kam so: An einem Freitag im Spätherbst 1989 brachte mir ein Bote vom Nachtdienst so gegen 19:00 Uhr ein hoch brisantes Telegramm ins WHO-Büro. In den USA war unter importierten Primaten, Affen einer Makaken-Art, eine tödliche Seuche ausgebrochen, die in Symptom und Verlauf der Ebola-Infektion glich. Binnen 4 Wochen waren 100 Tiere verendet. Menschen seien bislang nicht erkrankt. Man habe aber mit dem Elektronenmikroskop ein dem Ebola-Erreger ähnliches Virus festgestellt. Die betroffenen Affen waren Wochen zuvor mit der Fluggesellschaft KLM von den Philippinen in die USA transportiert worden. Das war an sich schon alarmierend, aber insofern ganz besonders aufregend, als alle bis dahin registrierten Ausbrüche dieser hochgefährlichen Virusgruppe ihre Infektionsquellen in Afrika hatten. Konnte hier während des Tiertransports etwas durcheinander geraten sein oder gar eine Kontaktinfektion (sog. cross-infection) zwischen Tieren aus Afrika und Asien stattgefunden haben?

Nun, man muss dazu wissen, dass Tiertransporte der KLM von Asien oder Afrika nach den USA über Europa führen. Amsterdam ist ein großer Umschlagplatz für Flugzeugwechsel und Tierversorgung im Transitbereich. Manche internationalen Transporte von Affen werden dort auch langfristig unterbrochen, um die Tiere in abgelegenen Quarantänebetrieben gegen Tuberkulose, Masern, Tollwut, Parasiten und andere Erreger zu impfen bzw. zu behandeln und wochenlang zu beobachten, bevor sie in das eigentliche Bestimmungsland einreisen dürfen.

Entscheidend ist die Feststellung, dass hier Tiersendungen aus verschiedenen Kontinenten zusammentreffen und dann in alle Himmelsrichtungen weitergeleitet werden. Gut, dass es internationale Organisationen wie die WHO gibt, die den damit verbundenen Gefahren nachgehen. Denn solche „Drehkreuze“ von Tierfrachten sind äußerst kritische Orte in der Verbreitung von Seuchenerregern und damit auch in deren Bekämpfung. Tierärzte und vor allem Staatsveterinäre für Tierseuchenbekämpfung befassen sich in ihrer Ermittlungsarbeit mit allen möglichen Bewegungen, Aufenthalten und Kontakten von Tieren und Zwischenträgern. Ziel solcher „Verfolgungsuntersuchungen“ ist es, Verbreitungswege zu erfassen und zu kappen. Das sind heute extrem komplexe Aufgaben. Meistens betreffen diese viele Fachgebiete. Vor allem muss rasch gehandelt werden, um Erinnerungslücken zu vermeiden und den Erreger in seiner Ausbreitung noch einholen zu können. Und da hat man bei einer Seuchenmeldung, freitags am späten Nachmittag, sehr schlechte Karten.

Mein erster Anruf galt also nicht etwa irgendwelchen Vorgesetzten in Genf, sondern dem Chefveterinär der Niederlande, den ich persönlich kannte. Tatsächlich erreichte ich ihn noch – spät an einem Freitag. Er war nun wirklich kein Schwabe und das lehrte mich eines Besseren bezüglich des Arbeitseinsatzes anderer europäischer Völkerstämme. Umgehend informierte dieser die KLM und den Chefveterinär der Verwaltungsregion Amsterdam. Fernab vom eigentlichen Ausbruch der Seuche in den USA lief nun in Europa die übliche Untersuchung der möglichen Verbreitungswege an. Wann und was geschah mit den Tieren von den Philippinen auf dem Transport über Amsterdam? Konnten sie mit Behältnissen oder Unreinlichkeiten von Tieren aus Afrika in Berührung gekommen sein? Im Vordergrund stand für mich immer noch die Frage der Kreuzkontaminierung eines Transportes aus den Philippinen durch einen Virusträger aus Afrika. In diesem Fall bestünde höchstes Risiko für eine weitere Verbreitung. Auch waren die Menschen zu ermitteln, die mit dieser Tierfracht zu tun hatten. Erst an zweiter Stelle kam für uns eine noch unbekannte Virusquelle in den Philippinen in Betracht. Wie üblich bei solchen Notfällen an Wochenenden, hatte der Chefveterinär in Holland mit fast unüberwindlichen Widerständen zu kämpfen. Der betreffende Tiertransport lag ja Wochen zurück. Die relevanten Daten zu Flügen und Tierfrachten waren am Flughafen in Amsterdam nicht mehr greifbar. Wohl behütet lagen sie in Form von Magnetbandspulen fest eingeschlossen in einem KLM-Tresor in einer anderen Stadt, soweit ich mich erinnere, in Delft.

Der Chefveterinär der Niederlande machte sich am nächsten Morgen, also Samstag, persönlich auf den Weg(!), um den Mann mit dem Tresorschlüssel ausfindig zu machen und den Verantwortlichen für die Freigabe der Magnetbänder zu finden. Schließlich musste er am Sonntag den Techniker, der die Bänder abspielen und auswerten konnte, zur Datenauswertung aller relevanter Flugbewegungen und Transportdetails motivieren. Das war eine absolute Meisterleistung. Die Datenbeschaffung und Information verschiedener Dienste entwickelte sich an jenem Sonntag so rasch, dass ich in Genf am Telefon mit den holländischen Kollegen eine interdisziplinäre Besprechungsrunde am Flughafen Amsterdam gleich für Montag früh ins Auge fassen konnte. Pünktlich um 8:00 Uhr früh trafen sich dann auf Einladung des niederländischen Chefveterinärs Vertreter des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Flughafenarzt, Veterinäre der Regionalverwaltung und des Flughafenbereichs, Cheftechniker für Tiertransporte, Epidemiologen, KLM-Fachleute und ein auf Primaten spezialisierter Zoologe der Universität. Mit 15 – 20 Teilnehmern war ein mittlerer Konferenzraum voll ausgelastet. Allein die Vorbereitung dieser Sitzung war ein Bravourstück niederländischer Präzision. Bei den am Wochenende fehlenden Hierarchien und Bürohilfen war wohl kaum jemand mit einem schriftlichem Dienstauftrag ausgestattet. Die individuelle Kompetenz war entscheidend. Informationsfluss und Aufgabenverteilung liefen wie am Schnürchen. Ich musste lediglich den jungen Universitätszoologen aus meiner Privatschatulle mit Bargeld für Telefon, Bahnticket und Taxi versehen. Er wurde von der Besprechungsrunde gebeten, raschestens in der Provinz einen regionalen Veterinärchef mit seinen Fachkenntnissen zu verstärken. Dort musste ein Quarantänebetrieb für Affen (s. oben) kurzfristig gesperrt und überwacht werden. Diese polizeiliche Maßnahme wurde kraft Amtes der anwesenden Veterinärchefs ganz überraschend, d. h. ohne Vorankündigung getroffen, um vor Ort – ungestört – mögliche Sonderbewegungen von Tieren in zeitlicher Nähe zu dem infizierten Tiertransport genauestens ermitteln zu können.

Das wichtigste Ergebnis dieser Besprechungsrunde, die sich zu einer richtigen „Task-Force“ mauserte, war die Erkenntnis, dass an den betreffenden Transportterminen wohl keine Kreuzkontamination zwischen Tieren aus Asien und Afrika stattfinden konnte. Umso rätselhafter war der Seuchenausbruch am Bestimmungsort des Affentransportes in den USA. (Noch heute ist man auf der Suche nach dem Reservoir dieses besonderen „Reston Ebolavirus“ in der freien Natur. Weitere Ausbrüche dieses Erregers waren seither immer mit Tieren auf und aus den Philippinen verknüpft. Dort waren eine Makakenfarm und Hausschweine betroffen.)

Doch zurück zu unserer „Task-Force“ im Jahre 1989. Noch während der Sitzung Montagfrüh in Amsterdam traf Frau Dr. Fisher vom Hochsicherheitslabor der USA aus Atlanta, ein. Sie war am Vorabend mit Kühlbehälter und Gerätschaften zur Probenentnahme gestartet, um eventuell Untersuchungsmaterial zur Virusisolierung in ihr Labor mitnehmen zu können. Alle möglichen Maßnahmen dazu waren zwischen ihr und den Teilnehmern rasch organisiert.

Im Gegensatz zur gelungenen Kräftebündelung in Den Hag und Amsterdam war ich an jenem Wochenende in der WHO in Genf auf mich alleine gestellt. Vorgesetzte und Fachkollegen aus der Humanmedizin waren in der Welt unterwegs oder irgendwo zum Wochenende in den Bergen oder auf dem Genfer See. Die Welt war damals noch handyfrei. Für mich bedeutete das, die Entscheidung zu treffen, am Sonntag ohne offizielle Genehmigung einer Dienstreise mit einem privat gekauften Ticket (also auch nicht beruflich versichert) zur Sitzung der „Task Force“ nach Amsterdam zu fliegen. Nachträglich hat mir die WHO alle Ausgaben erstattet. Vom Vorgesetzten erhielt ich dafür ein verhaltenes Lob, vom Finanzdirektor der WHO eine gleichermaßen verhaltene, mündliche Ermahnung. Ich solle solche ungenehmigten Aktionen doch bitte nicht wiederholen. Meine Personalakte blieb aber unbehelligt.


Literatur:

Reston Virus: Internet, Wikipedia u.a. Reston Ebolavirus in Humans and Animals in the Philippines, J. Infect. Dis. 204 (suppl.3) S.757 -S.760