Eliminierung der Wildtiertollwut in Europa 1968-1990

Eliminierung

Die größte Energie in meinem Berufsleben verwendete ich für die Erforschung der Fuchsökologie sowie für das Ausbreitungsverhalten und die Bekämpfung der Fuchstollwut. Das schlägt sich auch in meinen vielen Publikationen dazu nieder. Ein weiter Bogen von Faszination spannte sich über 3 Jahrzehnte von Forschung und Erfolg. Noch nie zuvor in der Geschichte wurde ein abgeschwächter Virusstamm eines der tödlichsten Erregers so effektiv und sicher zur Massenimpfung in freier Natur verwendet. Und noch nie haben sich so viele Disziplinen und Länder zu einem Programm zusammengefunden, das in der Seuchenbekämpfung und -überwachung die scharfen Grenzen von Staaten und Verwaltungskreisen „beseitigte“. Entlang der französisch-schweizerischen Grenze in den wilden Jura-Bergen von Basel bis Genf wurde die Grenzlinie durch ein gemeinsam behandeltes Band von ca. 30 km Breite ersetzt. Kleinste Verwaltungshürden taten sich auf und mussten überwunden werden. Zum Beispiel waren Dienstfahrzeuge von Veterinär- und Forstbeamten jenseits der Landesgrenze nicht immer versichert. In noch weit größerem Umfang wurden grenzüberschreitende Impfgürtel zur Grundsatzstrategie, als die EU die Organisation dazu übernahm und finanzierte. Der Erfolg förderte die Begeisterung und es gelang etwas, was eigentlich verwaltungstechnisch so nicht gelingen konnte. Der Veterinärsektor kommandierte, der Landwirtschaftssektor bezahlte, die Wildhüter taten die Hauptarbeit: Sie legten nach Plan die Impfköder aus. Aber der Gesundheitssektor zog aus all diesen Anstrengungen den absoluten Gewinn: Denn die Verluste durch Fuchstollwut waren in der Tierproduktion ökonomisch bedeutungslos, im Gesundheitssektor dagegen extrem hoch – durch die hohen Kosten der Behandlung von Menschen nach Tollwutexposition.

Verwaltungspolitisch bleibt der Erfolg der Wildtiertollwutbekämpfung für mich bis heute ein Rätsel. Ob die WHO dazu der Schlüssel war – oder die Jägerschaft im Gefühl, etwas ganz Besonderes zu leisten oder ein Mix aus alledem? In insgesamt 25 WHO-Arbeitstagungen koordinierte ich in Genf die Arbeiten von 15 Forschergruppen in 10 Ländern. Mitentscheidend waren erste Meldungen aus Atlanta (USA) über die Möglichkeit, Füchse auf oralem Wege zu immunisieren. Das Wistar-Institut in Philadelphia arbeitete eng mit europäischen Laboratorien an monoklonalen Antikörpern, mit denen sich Tollwutimpfstämme vom Wildvirus unterscheiden ließen. Diese Differenzierung war in der Bundesrepublik eine „conditio sine qua non“ für den Einsatz des Köderimpfstoffs in der Natur. Impulse kamen so aus einem weiten Netz von Forschungsinstituten. Die Entwicklung und Prüfung von abgeschwächtem Tollwutvirus zur oralen Immunisierung ist ein überdimensionales Forschungsprogramm, dessen viele Facetten in einem Buch einigermaßen erfasst sind (Bögel, Meslin, Kaplan Ed., siehe unten).

Als Initiator direkt beteiligt war ich an epidemiologischen Grundlagenuntersuchungen, wozu sich die Daten von 3000 Wildtiertollwutfällen einer in Süddeutschland ziemlich genau von Nord nach Süd vordringenden Seuche eigneten. Die Datenverarbeitung erfolgte noch mit Lochkarten, die eine Kollegin bei uns in Genf erstellte. Das räumliche und zeitliche Vordringen der Wildtiertollwut konnten wir statistisch erst studieren, nachdem wir die Frontlinie einer Seuche für den Rechner definiert hatten. Dazu gab es in der Weltliteratur noch keine Beispiele. Dann brauchten wir Indikatoren für die Dichte und Bewegung der Fuchspopulation in Relation zur Seuchenfrequenz. Die kritischen Schwellenwerte zur Kettenreaktion und die Erholungsraten reduzierter Fuchspopulationen waren ebenso wichtig. Bis auf wenige Intensivstudien in der freien Wildbahn konnten großflächige Zusammenhänge nur durch indirekte Daten erfasst werden, wie Abschussmeldungen und Relationen von Hochwild, Schalenwild und Niederwild, Zusammensetzung der Jägerschaft und Tollwutfrequenz. So wurde der „Jagdindikator für Fuchspopulationsdichte“ zu einem wichtigen Maß, das sich trotz aller Unschärfe als ziemlich „belastbar“ erwies. Damals war das alles Neuland, das viele Wissenschaftler in ca. 10 Ländern der Natur abgerungen haben, Schritt für Schritt in engster Zusammenarbeit. Hinzu kam die Entwicklung von Impfködern und deren Einsatztechnik, sowie der Aufbau eines Tollwutüberwachungssystems zum raschen internationalen Datenaustausch (siehe „Aufbau der Europäischen Tollwutüberwachung“). Im Rahmen des WHO-Programmes kamen so über 100 technische Publikationen zustande, obwohl die vielen Wissenschaftler bei dem vorgegebenen Forschungstempo zum Schreiben kaum Zeit hatten. Auch hierbei musste die WHO mit ihren Organen zur Hilfe eilen. Dafür als WHO-Koordinator verantwortlich zu sein, war eine wunderschöne Aufgabe.

Nachzulesen in:

„WHO report of informal discussions on the WHO/FAO coordinated research programme on Wildlife rabies in Europe“, Nancy, 3-5 July 1972

„Recovery of reduced fox populations in rabies control“: Bögel, K., A. A. Arata, H. Moegle und F. Knorpp, Zbl. Vet. Med. B, 21, 401-412 (1964).

„Annual Turnover of Fox Populations in Europe“: Lloyd, H. G., B. Jensen, J. L. van Haaften, F. J. J. Niewold, A. Wandeler, K. Bögel und A. A. Arata Zbl. Vet. Med., Reihe B, 23, 580-589 (1976).

„Characteristics of the spread of a wildlife rabies epidemic in Europe“: Bögel, K., H. Moegle, F. Knorpp, A. A. Arata, K. Dietz und P. Diethelm, Bull. World Health Organ., 54, 433-447 (1976).

„Wildlife Rabies Control“: Editors Bögel, K., F. X. Meslin and M. Kaplan, published by Wells Medical Ltd, Kent, UK., 222 Pages (1990).